Zwischen dem, was war,
und dem, was werden kann
Am 12. August sind auf dem Instagram-Kanal des Kibbuz Nirim Bilder von Abrissbaggern zu sehen, unter der Überschrift:
„Heute beginnen wir ein neues Kapitel unseres Kibbuz: Der Prozess, die Gebäude des Jugendviertels abzureißen, die uns so viele Jahre begleitet haben und die am 7. Oktober verbrannt wurden, hat begonnen. Der Abriss symbolisiert den Beginn unseres Weges zum Wiederaufbau. Der Prozess kann schmerzhaft und beängstigend sein, mit seinem ohrenbetäubenden Lärm und Wolken von dichtem Staub in der Luft. Der Abriss ruft ein Gefühl von Instabilität, Unruhe aus, und Tränen. Viele, viele Tränen. Tränen über den Verlust dieser Nachbarschaft, die mit Lebenslust und Lachen gefüllt war. Tränen für die, die ermordet, verschleppt und verletzt wurden. Tränen über alles, was an diesem verfluchten Tag zerstört wurde. Und trotzdem… Aus diesen Trümmern wird etwas Neues wachsen. […]“
[übersetzt aus dem Hebräischen]
Die Straße, die zu den drei benachbarten Kibbuzim Nirim, Nir Oz und En HaShlosha führt. In Nirim haben bereits Abbrucharbeiten begonnen. In Nir Oz ist das noch nicht denkbar.
Der Abriss von vollständig ausgebrannten, zerstörten Gebäuden ist ein Prozess, dem sich viele der von der Hamas angegriffenen Kibbuzim werden stellen müssen. In Nir Oz hat die Kibbuzverwaltung eine Karte erstellt, auf der die Häuser gelb markiert sind, die derart zerstört sind, dass sie nicht wieder bewohnbar gemacht werden können. Mit kleinen Klebepunkten ist markiert, ob die Bewohner der jeweiligen Häuser ermordet, verschleppt oder wieder befreit worden sind. Als wir die Karte zum ersten Mal sehen, zeigt Itay [Name geändert] auf einzelne Häuser und erzählt, wer dort gewohnt hat, was sie über den Verbleib der Personen wissen, wer die Befreiten sind.
Zwei Häuser auf der Karte fallen ins Auge: Das Haus mit den vier blauen Punkten, das Haus der Familie Bibas. Das Video von Shiri Bibas, die ihre beiden Söhne mit den leuchtend roten Haaren, Ariel und Kfir, im Arm umklammert hält, ist eines der erschütterndsten Dokumente des 7. Oktober. Noch Anfang August haben wir Ariels fünftem Geburtstag gedacht, sein Bruder Kfir ist in der Gefangenschaft ein Jahr alt geworden. Es ist schwer begreiflich, dass Kfir mittlerweile längere Zeit in der Gefangenschaft der Hamas lebt, als frei in dieser Welt. Es gibt ein Video von einer Überwachungskamera in Khan Younes am 7. Oktober, in der Shiri mit ihren beiden Söhnen lebend zu sehen ist. Ob sie heute noch leben, wissen wir nicht. Ein anderes auf der Karte gelb markiertes Haus ist mit fünf roten Punkten versehen. Wenn man an dem Haus mitten im Kibbuz ankommt, sind nur die verbrannten Überreste zu sehen, und ein großes Transparent mit dem Foto einer wunderschönen Familie. Die Familie Kedem Siman Tov, Kedem und Yonathan, ihre fünfjährigen Zwillinge Sahar und Arbel, und Omer, ihr zweijährigen Sohn, lachen in die Kamera. Ihr Haus ist nicht mehr bewohnbar und sie werden nie mehr zurückkehren. Die Trauer, die einen überrollt, wenn man vor dem Anblick des Hauses und des Fotos steht, ist kaum auszuhalten.
Diese Gebäude, diese Häuser, ein Zuhause, abzureißen, wird eine Zäsur sein. Eine schmerzhafte, die die Endgültigkeit, den Tod und das Nie-mehr-zurückkommen auf eine brutale Art noch einmal bestätigt. Also auch eine Zäsur, die jetzt gerade undenkbar ist. Denn noch immer hoffen wir auf die Rückkehr von so vielen Menschen und ganzen Familien. In Israel hört man seit dem schwarzen Shabbat immer wieder den Satz "Für uns ist seit über 10 Monaten der 7. Oktober". Er beschreibt das Gefühl der Ohnmacht und Fassungslosigkeit und die Unfähigkeit, einfach weiterzumachen, angesichts der 115 Menschen, die immer noch in Gaza sind. Also geht es im Moment nicht um den großen Neuanfang, sondern vor allem um die Verhandlungen mit der Hamas, die die Geiseln nach Hause bringen sollen. Dafür demonstrieren Menschen aus Nir Oz jede Woche am Samstag in Kiryat Gat, wohin sie evakuiert wurden, stehen mit Bildern ihrer Angehörigen und Freunde an der Straße, richten sich an die Medien und die Politik. Im ganzen Land schließen sich ihrem Protest Tausende Menschen an.
Und im Kibbuz selbst geht es jetzt darum, den Ort so herzurichten, dass die Geiseln und die Evakuierten nach Hause kommen können, wenn sie das wollen. Ein wichtiger Schritt für die Gemeinschaft war es, das verwüstete und zerstörte Gemeinschaftshaus wieder herzurichten. Guy [Name geändert], ein Soldat, mit dem wir jeden Tag im Kibbuz arbeiten, erzählt uns, dass sie vor etwa drei Wochen den großen Gemeinschaftsraum aufgeräumt und mit allen erdenklichen Putzmitteln gereinigt haben, dann den kleinen Raum innerhalb des Gebäudes gestrichen und mit Bildern aus dem Kibbuz dekoriert haben. In diesem Teil des Gemeinschaftshauses essen alle im Kibbuz Helfenden jeden Tag zu Mittag. Wenn Rotem [Name geändert], der alles koordiniert, in den gut gefüllten Speiseraum kommt, leuchten seine Augen, er geht von Tisch zu Tisch, begrüßt alle und setzt sich dann dazu. Und so holen sich die Menschen aus Nir Oz Stück für Stück diese Orte des Zusammenkommens und der gemeinsamen Aktivitäten zurück. So sind sie auch jeden Donnerstag, der in Israel den letzten Arbeitstag vor dem Wochenende markiert, am Schwimmbad des Kibbuz, alle Helfenden sitzen zusammen, es gibt Cola, Wassereis und Nüsse, einige gehen schwimmen und kurz vergisst man, dass rund um das intakte, mit bunten Sonnensegeln geschmückte Schwimmbad Zerstörung und Chaos herrscht.
Ein Kinderbuch in den Trümmern eines Hauses. Keine persönlichen Gegenstände an und in den Häusern werden bewegt oder berührt.
So sehr es die Bestrebung gibt, den Kibbuz wieder aufzubauen, herrscht ein tiefer Respekt vor den privaten Häusern und Grundstücken im Kibbuz. Wenn wir an einer neuen Grünfläche, einem Hain, Blühstreifen oder Garten arbeiten, ist der erste Schritt, zu klären, was wir nicht anfassen. In den öffentlichen Bereichen, die dem Kibbuz gehören, räumen wir auf, stutzen, sägen, kürzen, bewässern wir, reparieren das Bewässerungssystem und sammeln Müll auf. Aber sobald es in den Vordereingang von privaten Häuser geht, wo Gegenstände und Möbel der Bewohner stehen, schneiden wir höchstens ein paar wuchernde Pflanzen zurück. Denn alles soll so bleiben, wie die Bewohner es am 7. Oktober verlassen haben. Es wird ihre Entscheidung sein, wie sie mit ihren Sachen umgehen wollen, und auf keinen Fall soll der Eindruck entstehen, es sei nicht auf sie gewartet worden. Sowohl für diejenigen, die evakuiert, als auch die, die verschleppt sind. In Einzelfällen haben Bewohner darum gebeten, dass Aufräumarbeiten übernommen werden und es wird ganz genau abgesprochen, was wie bearbeitet werden darf.
Also arbeiten wir an einem Tag erst an einer Häuserreihe, von der wir wissen, dass sie einmal komplett abgerissen werden muss, genauso gründlich wie dann an einer Häuserreihe von Bewohnern, die teils schon zurückgekommen sind, teils mit Sicherheit und in naher Zukunft zurückkommen werden. Das scheint vielleicht merkwürdig, aber wenn man durch den Kibbuz fährt, durch diese und jene Häuserreihen, und die wuchernden und rankenden Pflanzen und das Unkraut und trockenes Laub und Dreck alles unter sich begraben, strahlt er nicht die Hoffnung und Lebendigkeit aus, auf die wir hoffen. Dagegen ist es ein tröstendes Bild, wenn in dieser doch unnachgiebigen Wüste die ordentlich zurechtgestutzten, blühenden Büsche bewässert werden.