10. August 2024, Nir Oz / Magen
Zehn Monate sind seit dem 7. Oktober vergangen. Wir kennen alle die Bilder von diesem Tag. Die Bilder von den Bewohnern der Kibbuzim mit angstverzerrten Gesichtern, von Ermordungen, von Entführungen, von jubelnden Hamas-Terroristen. Wir kennen die Bilder von den Kibbuzim selbst, die Häuser verbrannt, teils vollständig niedergebrannt, an den Häusern und auf den Straßen Löcher von den Raketeneinschlägen und alle möglichen Dinge aus den geplünderten Häusern auf den Wegen des Kibbuz, Spielsachen, Geschirr, Bücher. Und wir alle kennen die Zahlen von diesem Tag. Besonders von dem mit am stärksten betroffenen Kibbuz Nir Oz. Einer von vier Menschen in Nir Oz wurden an diesem schwarzen Schabbat entführt oder ermordet. Ganze Familien wurden ermordet oder in den Gaza-Streifen entführt.
Das sind die Fakten, das sind die Zahlen, das ist, was wir seit dem 7. Oktober immer noch nur schwierig verarbeiten, verstehen, fassen können. Worte über diese Fakten hinaus zu finden, für das unermessliche Leid und die unfassbare Zerstörung, die die Terroristen an diesem Tag angerichtet haben, scheint unmöglich und sinnlos. Die emotionale Reaktion auf die Fakten und Bilder fällt vielleicht unterschiedlich aus, aber bewegt sich irgendwo zwischen unendlicher Trauer, Verzweiflung, Wut und auch Ohnmacht.
Aber was es braucht, ist Hoffnung. Hoffnung, dass die 115 Geiseln nach Hause kommen, dass sie nach über 300 Tagen in der Gefangenschaft der Hamas noch leben, dass sie sich von dem ungeheuerlichen Trauma erholen können. Aber was heißt eigentlich „nach Hause“? Wie sehen die Kibbuzim zehn Monate nach dem Überfall aus? Wie gehen sie mit der jetzigen Lage um und was ist ihre Zukunftsvision?
Die Antwort ist je nach Kibbuz unterschiedlich. In einer Gruppe von neun Menschen, die am 6. August aus Deutschland angereist sind, lernen wir zwei Realitäten kennen: Die vom Kibbuz Magen und die vom Kibbuz Nir Oz. Im Kibbuz Magen wohnen wir, in Häusern von Menschen, die momentan oder dauerhaft nicht mehr hier wohnen. Im Kibbuz Nir Oz helfen wir bei allem, was bei den Wiederaufbaubestrebungen anfällt. Einblicke in die Realität von Nir Oz haben wir im Rahmen des Solidaritätspartnerschafts-Vereins schon über Videotelefonate kurz nach dem 7. Oktober, Treffen und Besuche des Kibbuz im Mai bekommen. Die Lage war und ist desaströs. Die Kibbuzbewohner waren erst in Hotels in Eilat evakuiert, dann in einer Neubausiedlung in Kiryat Gat (in der Nähe von Ashkelon). Sie können, anders als die Menschen in Magen, nicht zurückkehren.
Denn im Kibbuz Magen sind die Folgen des 7. Oktober fast nicht sichtbar. Als um 6.30Uhr die Sirenen losheulten, gingen die knapp 350 Bewohner in ihre „Mammad“, also die Schutzräume ihrer Häuser. Die sind speziell mit dicken Wänden, Decken und Böden und Türen und Fensterabdeckungen aus Stahl versehen und werden je nach Größe gleichzeitig als Schlafzimmer, Arbeitszimmer oder Abstellraum genutzt. Am schwarzen Shabbat gingen in Magen nicht alle in die Schutzräume: Jemand vom Sicherheitsteam geht immer bei Raketenalarm auf den höchsten Punkt im Kibbuz, von dem aus man eine gute Übersicht über das Areal vor dem Gazastreifen hat – zwischen der Grenze des Gazastreifens und dem Kibbuz liegen nur 4km. Und von dort aus sah er die Terroristen auf Motorrädern und Trucks auf das Kibbuz zufahren, teilweise hatten sie den Zaun schon überwunden. Erst dachte er, es seien vielleicht israelische Soldaten, aber sie antworteten auf seine Rufe mit Beschuss. Das Sicherheitsteam konnte die Terroristen letztlich zurückschlagen, mit zwei Schwerverletzten und einem Getöteten, nach einer Stunde gaben die Terroristen auf. Alle Bewohner des Kibbuz überlebten. Dann waren sie monatelang in Hotels am Toten Meer evakuiert, was gerade für Familien mit Kindern ein schwer erträglicher Zustand war. Später konnten sie, mit als erste in der Region, in ihren Kibbuz zurück - und die meisten Familien sind tatsächlich zurückgekehrt, trotz des Traumas und trotz der aktiven Kriegsphase. Und so sehen wir, wenn wir nachmittags von der Arbeit in Nir Oz zurückkommen, ältere Leute auf kleinen Elektroautos durch die Wege des Kibbuz fahren, den kleinen, geschäftigen Einkaufsladen, das Schwimmbad voller kreischender Kinder und den Hügel, wegen dem das Kibbuz letztlich gerettet werden konnte, voller Jugendlicher auf ihren Fahrrädern und mit ihren Hunden spielend.
Das Einschlagsloch einer Rakete vor der zerstörten Sukkah. Bis Freitagabend feierten Menschen Sukkot, ein Fest, bei dem man in selbstgebauten "Laubhütten" beisammen sitzt. Der "schwarze Schabbat" sollte eigentlich der fröhliche Feiertag zum Abschluss von Sukkot werden, Simchat Thora (Freude über die Thora).
Diese Eindrücke an diesen Nachmittagen sind ein schwer zu verarbeitender Kontrast zu der Realität im Kibbuz Nir Oz. Wenn wir jeden Morgen um 7Uhr dort ankommen, fällt unser Blick zuerst auf die schwarz verkohlten Wände der Häuser, halb heruntergefallene Wellblechdächer, wie auf halbem Weg erstarrt, und ebenso schwarz verkohlt. Auf die vielen Gegenstände, die in den Vorgärten verstreut liegen, halb verdeckt von Laub und halb vertrockneten Pflanzen. Und dennoch sieht man auf den ersten Blick, was für ein wunderschöner Ort dieser Kibbuz eigentlich ist. Direkt am Eingang ist ein kleiner Hain angebaut, mit Zitrus-, Oliven- und Feigenbäumen, aber auch vor den Häusern findet man eine riesige Vielfalt von mittlerweile blühenden Pflanzen, und natürlich zieren Palmen die größeren Straßen des Kibbuz. Es gibt ein großes Gemeinschaftszentrum, einen großen Spielplatz, Rasen- und Blühflächen, Sportanlagen und ein Schwimmbad. All diese liebevoll errichteten, dekorierten, bemalten und gepflegten Orte innerhalb des Kibbuz lässt umso schmerzlicher empfinden, dass er, bis auf die Helfer, menschenleer ist. Man ahnt, was hier gewesen ist, welche Lebendigkeit und Lebensfreude, welches Gemeinschafts- und Verantwortungsgefühl für das gemeinsame Zuhause. Wie ein Schlag trifft einen darauf die unglaubliche Zerstörungswut, die aus den zerbombten, verbrannten Häusern entgegenzubrüllen scheint. Alles wird dumpf, man kann nicht verstehen, will nicht begreifen, dass das hier keine Naturkatastrophe war, sondern dass hier Menschen, verblendet durch Ideologie und abgrundtiefen Hass, gewütet und gemordet haben. Dass sie vor nichts und niemandem Halt gemacht haben. Vor den Türen der Häuser haben die Überlebenden des Kibbuz Bilder von den Bewohnern, aufgestellt, auf denen ganze Familien, ältere Ehepaare und glücklich lächelnde junge und alte Menschen abgebildet sind. Sie sind ermordet oder nach Gaza verschleppt worden. 75 Menschen wurden von hier entführt, davon sind 33 noch heute in der Hand der Hamas, aber von 11 von ihnen wissen wir bereits, dass sie in der Geiselhaft ermordet wurden oder an ihren Verletzungen gestorben sind.
Itay (Name geändert) führt uns vor unserem ersten Arbeitstag durch den Kibbuz, er selbst ist im Kibbuz aufgewachsen, lebt aber seit mehreren Jahren in einem Nachbarort. Wir gehen von Haus zu Haus und er erzählt, mit wem er zur Schule gegangen ist, mit wem er im Kinderhaus aufgewachsen ist, und was mit den jeweiligen Bewohnern am 7. Oktober passiert ist. Immer wieder verschlägt es ihm die Stimme, muss er sich sammeln. Er zeigt uns das Haus der Kalderons, deren Bilder wir von den Mahnwachen für die Geiseln kennen. Die Geschwister Erez und Sahar, 12 und 16 Jahre alt, versteckten sich in Büschen, wurden entdeckt und nach Gaza entführt. Nach 52 Tagen kamen sie frei, ihr Vater ist weiterhin in Geiselhaft, ihre Großmutter und Cousine ermordet. Als sie freikamen, erzählten sie, dass Kinder, die mit den Hamas-Terroristen gekommen waren, sie entdeckt und verraten haben. Dass es nicht nur männliche Kämpfer waren, die an diesem Tag in den Kibbuz eindrangen, ist aus mehreren Berichten und Videos bekannt. In der ersten Welle kam die Nukhba, eine militärische Spezialeinheit der Hamas, etwa mit 150 Kämpfern auf Trucks und Motorrädern. In weiteren zwei Wellen, zwischen denen sie verletzte Kämpfer und Geiseln zurück in den Gazastreifen brachten, kamen dann auch Frauen und Kinder mit, um die Häuser zu plündern. Itay erzählt, dass erst niemand verstanden hat, warum im Kibbuz nach dem Überfall überall Flipflops herumlagen, bis sie verstanden haben, dass die Hamas-Kämpfer in Flipflops kamen, um dann Schuhe aus den Häusern des Kibbuz mitzunehmen. Ein völlig surreales Bild. Alles Wertvolle wurde mitgenommen, alles andere vor den Häusern zerstreut oder in den Häusern verbrannt.
Itay (Name geändert) zeigt uns, wie der Kibbuz in seiner Entstehung 1955 aussah - wenige, schlichte Holzhäuser inmitten der Wüste. Für den Rest des Kibbuz wurden immer erst Bäume gepflanzt und dann die Häuser dazugebaut.
Nur in sechs Häusern konnten die Terroristen nicht eindringen. Und auch die Mutter von Erez und Sahar, konnte die Tür zu ihrem „Mammad“ so festklemmen, dass die Terroristen nicht hereinkamen. Die Armee kam acht Stunden später und sie überlebte. Ein anderes dieser Häuser ist das von Rotem (Name geändert). Er konnte sich und seine Familie retten, die Terroristen kamen nicht in sein Haus. Jetzt koordiniert er die Helfer im Kibbuz. Das sind sowohl Überlebende, ehemalige Bewohner des Kibbuz, Menschen, die für wenige Tage oder für einen Tag pro Woche aus ganz Israel angereist kommen und unsere Gruppe. Zu den Überlebenden gehören natürlich die israelischen Kibbuzniks, aber auch thailändische Staatsbürger, die vor dem 7. Oktober dort vor allem in der Landwirtschaft gearbeitet haben und auch im Kibbuz lebten. Elf von ihnen wurden ermordet, fünf als Geiseln genommen, aber später befreit, und einige sind in das Kibbuz zurückgekehrt und wollen beim Wiederaufbau und in der Landwirtschaft helfen. Der Ort ist für sie ebenso ein Zuhause geworden.
Rotem kümmert sich also um uns alle, ist gefühlt immer an zehn Orten gleichzeitig, telefoniert, koordiniert, fährt im Kibbuz herum, immer mit seiner Hündin im Schlepptau, die ihn keine Sekunde aus den Augen lässt. Auch Yuval (Name geändert), der im Kibbuz aufgewachsen ist, dann jahrelang im Ausland gelebt hat, und seit dem 7. Oktober als einer der sehr wenigen tatsächlich im Kibbuz wohnt, ist unsere Ansprechperson. Er hilft uns bei unseren Aufgaben und schenkt uns Kaktusfeigen aus dem beeindruckenden Kakteengarten von Oded Lifshitz, einem Journalisten und Friedensaktivisten, der noch immer in Gaza ist. Nach unserem Arbeitstag sitzen wir mit Yuval am Plastiktisch vor der großen Reparaturwerkstatt, essen die Kaktusfeigen, trinken Kaffee und rauchen eine Zigarette. Dann bedanken wir uns, steigen in unsere Autos und fahren nach Magen, wo wir auf dem Weg zu unseren Häusern die Vögel und Kinder übermütig kreischen hören und uns vor wirrem Glücklichsein darüber die Tränen kommen.
Ein junger Clementinenbaum im Hain am Eingang des Kibbuz Nir Oz. Ein zärtliches Zeichen von Hoffnung auf den Wiederaufbau des Kibbuz.